Vortragsskript Otmar Steinbicker 10.6.2016

Brauchen wir die Bundeswehr noch oder kann die weg?

Vortragsskript von Otmar Steinbicker, Aix Paix Aachen am 10.9.2016 in Saarwellingen im Rahmen der Kampagne 'Krieg beginnt hier' www.krieg-beginnt-hier.de

Skript als pdf 5 Seiten A4

Wenn wir diese Frage nicht so flapsig, wie in der Ankündigung der Veranstaltung formuliert, angehen wollen, dann müssen wir uns als erstes mit den Rahmenbedingungen beschäfti­gen: Was kann Bundeswehr leisten (positiv oder negativ)? Wo gibt es Grenzen der Einsatz­fähigkeit? Vor welchen Herausforderungen und Bedro­hungen steht Deutschland und welche sinnvollen Möglichkeiten gibt es, diesen Herausforderungen und Be­drohungen zu begeg­nen?

Wenn wir eine Straßenumfrage machen würden, wozu die Bundeswehr da sein soll, dann würde wohl die überwiegende Mehrheit der Befragten der Aussage zustimmen: Sie soll un­ser Land verteidigen.

Das ist nun leichter gesagt als getan. Vermutlich haben die meisten der Befürworter einer solchen Aufgabe für deren Durchführung die Szenarien der Zweiten Weltkrieges vor Augen. Dessen Ende liegt allerdings mehr als 70 Jahre zurück und seitdem hat sich die Welt ein­schließlich der Militärtechnik und der Möglichkeiten zur Kriegführung drastisch verändert. Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu. Sie erfordert aber ein entspre­chendes Umdenken
 

Ein großer konventioneller Krieg in Europa ist nicht mehr führbar

Eines der beeindruckendsten Erlebnisse in meinem journalistischen Leben war 1988 die Teilnahme an einer Tagung der Ev. Akademie Loccum bei der damals Politiker, Diplomaten, Journalisten und erstaunlicherweise auch Militärs aus Ost und West über die Problematik von Friedenssicherung und Kriegsverhinderung berie­ten. Für mich überraschend war damals die Erkenntnis der Militärs, dass nicht nur ein Atomkrieg nicht über­lebbar, sondern auch ein großer konventioneller Krieg in Europa nicht mehr führbar ist.

Damals erklärte mir ein Teilnehmer der DDR-Delegation, Wolfgang Schwarz, im Interview diese Problematik so: „Die heutigen modernen Industriegesellschaften in Europa, in Ost und West, weisen technologisch-indust­rielle und soziale Strukturen auf, die sie kriegsunfähig machen. Ein erneuter raumgreifender Krieg wäre für die europäischen Staaten nicht überlebbar. Da gibt es die Kernkraftwerke und großen Chemiebetriebe, nach deren Zerstörung bereits in einem kon­ventionellen Krieg aus Europa, auch ohne daß überhaupt Kernwaffen oder chemische Waf­fen zum Einsatz kommen müßten, eine atomar und chemisch verseuchte Wüste entste­hen würde. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von anderen Faktoren, die von ihrer Wirkung her einen glei­chen Stellenwert haben. Angesichts der hochgradigen Abhängigkeit moderner In­dustriegesellschaften von ei­ner funktionierenden Elektroenergieversorgung wäre es nicht einmal nötig, die Kraftwerke zu zerstören, um Industriestaaten wie die DDR oder die Bun­desrepublik komplett lahmzulegen; Es reichen die zentralen Um­spannstationen der Fern­übertragungsnetze für Elektroenergie. Das sind in beiden deutschen Staaten jeweils wenige Dutzend — im militärischen Jargon ,,sehr weiche“, d. h. gegen militärische Einwirkungen völ­lig unge­schütze Ziele. Die Folge einer Ausschaltung der Energieversorgung wäre ein natio­nales Chaos und die voll­ständige Desorganisation der Gesellschaft.“ (1)

Heute sind wir 28 Jahre weiter und die genannten Probleme haben sich vor allem durch neue Technologien weiter verschärft. Im vergangenen Jahr hatte ich die Gelegenheit zu einem Interview mit dem für die Loc­cum-Debatte verantwortlichen DDR-Militär, Oberst a.D. Wilfried Schreiber über diese Tagung zu sprechen. Er sagte mir: „Ja, auch ich war überrascht, dass wir als bis dahin militärische Gegner uns bei einer Reihe von Einschätzungen sehr nahe kamen. Für uns alle war klar, dass ein Krieg der beiden Mili­tärblöcke in Europa nicht führbar ist – ob mit oder ohne Kernwaffen – und dass vor allem die realen Offensivfähigkeiten der Streit­kräfte auf beiden Seiten als Bedrohung wahrgenommen wurden. Wir stimmten auch in der Sorge überein, dass laufende Modernisierungen der Streitkräfte durchaus die Gefahr einer Destabilisierung der Situation beinhalten. Für mich war diese Erfahrung so stark, dass ich auch heute noch freundschaftliche Kontakte zu mei­nen auffälligsten Kontrahenten dieser Diskussion in Loccum pflege.“

Und weiter: „Ein Krieg in Zentraleuropa zwischen den beiden Blöcken war nicht mehr führbar, weil es keine Sieger mehr gegeben hätte – und zwar sowohl mit als auch ohne Kernwaffen. Diese Aussage war die sicher­heitspolitische Grunderkenntnis in der zweiten Hälfte der 1980er Jah­re in Ost und West.“

Meine Zwischenfrage: „Halten Sie diese Aussage heute noch aufrecht angesichts der zu­nehmenden Kriegs­gefahr im Zuge des Ukraine-Konflikts?“ Wilfried Schreiber: Die Kriegsuntauglichkeit der europäischen Zivilisation für einen großen, raumgreifenden Krieg hat sich seit 1988 noch zugespitzt. Nehmen Sie die seit­dem deutlich gestiegene Abhängigkeit von Computertechnologie und dem Internet. Die Risiken sind insges­amt vielfältiger und unberechenbarer geworden. Das betrifft insbesondere die sensible Stabilität unserer Stromnetze: Ohne Elektroenergie kein Licht, kein Wasser, keine digitale Kommunikation, keine stabile ge­sundheitliche Versorgung, keinen Bahntransport - letztlich der völlige Zusammenbruch der gesamten Zivilisa­tion in allen von einem solchen Krieg be­troffenen Ländern.“ (2)

„Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“

1988/1989 gab es eine Arbeitsgruppe aus Bundeswehr und NVA-Militärs und Militärexperten aus SPD und SED, die sehr ernsthaft die Frage erörterten, ob man nicht zwischen den bei­den Militärblöcken NATO und Warschauer Pakt eine „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ her­stellen könne, die im Idealfall zwar die Möglich­keit einer militärischen Verteidigung garantie­re, die Möglichkeit eines militärischen Angriffes aber ausschließt. Das hätte im Realisie­rungsfall eine gewaltige militärische Deeskalation dargestellt. Das größte Problem vor dem sich diese Arbeitsgruppe gestellt sah, war allerdings das Problem reine Verteidigungs- bzw. Angriffswaf­fen zu definieren. Die meisten Waffen haben einen dual-use-Charakter, d.h. sie können sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung eingesetzt werden. Dennoch war diese Fragestellung nach einer „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ ein bemerkenswerter Fort­schritt in militärtheoretischem Denken.


Konflikte zwischen Staaten müssen ohne Krieg gelöst werden.

Konflikte zwischen Staaten auf der Grundlage von Interessenunterschieden welcher Art und welcher Intensi­tät auch immer wird es wohl immer geben. Die aktuelle „Brexit“-Debatte über einen Austritt Großbritanniens aus der EU ist nur ein Beispiel für eine solche Thematik.

Wenn solche Konflikte nicht mehr durch Kriege gelöst werden können, wird man andere Wege finden müs­sen, diese Konflikte auszutragen und Lösungen zu finden. Das ist dann keine Frage von „Pazifismus“ oder „Bellizismus“ mehr, sondern eine Frage von schlichtem Realismus. Wenn es keine militärische Lösung mehr geben kann, dann kann es nur noch eine politische Lösung geben. Wenn es aber keine militärische Lösung mehr geben kann, dann taugt auch die Bundeswehr als militärisches Instrument nicht mehr für eine Lösungs­suche. Dann ist zwangsläufig Politik gefragt!


Die Bundeswehr ist nicht mehr zur Landesverteidigung geeignet

In der Konsequenz heißt das: Die Bundeswehr ist nicht mehr zur Landesverteidigung geeig­net! Wenn ihr Ein­satz in einem großen europäischen Krieg zum „Zusammenbruch der ge­samten Zivilisation in allen von einem solchen Krieg betroffenen Ländern“ führen würde, wie Wilfried Schreiber es formuliert, dann wäre unser Land vernichtet und nicht „verteidigt“.

Das ist die zentrale Frage, die sich alle die stellen müssen, die von „Landesverteidigung“ re­den!

1990: Bundesrepublik ohne Armee?

1990 gab es einen interessanten Vorstoß des „Komitee für Grundrechte und Demokratie“, in­itiiert vom Frie­densforscher und -aktivisten Andreas Buro: „Aufruf für eine zivile Bundesrepu­blik Deutschland, eine Bundes­republik ohne Armee (BoA)“ (3) Ein Kernsatz lautete: „Die Bundesrepublik kann hier und heute ohne jedes Ri­siko für die Si­cherheit der Bevölkerung einseitig auf bewaffnete Streitkräfte – die Bundeswehr – verzich­ten. Sie leistete damit auch ihren besten und sichtbarsten Beitrag zur Entmilitarisierung und Demokratisierung der Deutschen Demokratischen Republik.“ Andreas Buro wurde damals sogar zu einem Vortrag zu diesem The­ma von der Bundes­wehrakademie in Hamburg eingeladen. Bei höheren Rängen stieß er mit seinen Thesen auf Diskussionsinteresse, bei niedrigeren Rängen auf Ablehnung.

Umbruchsituation nach dem Ende des Kalten Krieges

Eines war in dieser Umbruchsituation nach dem Ende des Kalten Krieges durchaus span­nend. Würde man aus den Erfahrungen der Konfrontation und der Einsicht in die Unmöglich­keit, einen großen Krieg in Europa Konsequenzen ziehen, militärisch abrüsten und die er­folgreiche Konferenz für Sicherheit in Europa (KSZE) zur Klärungsstelle für zwischenstaatli­che Konflikte auf der Grundlage des Systems der kollektiven Sicherheit ausbauen oder wür­de man nach etwas zeitlichem Abstand wieder in einen Konfrontationsmodus zurückschal­ten? Diese Frage war 1990 und 1991 nach der Auflösung des Warschauer Paktes durchaus offen.

Die Antwort kennen wir inzwischen aus dem Geschichtsbuch: Die Bundeswehr wurde ab 1990 auf dem Ge­biet der ehemaligen DDR stationiert, 1999 kamen die ehemaligen War­schauer Pakt-Staaten Polen, Un­garn und Tschechien zur NATO, 2004 die baltischen Repu­bliken Estland, Lettland und Litauen, die bis 1991 Bestandteil der UdSSR waren, sowie die Slowakei, Bulgarien und Rumänien, 2009 die Balkanstaaten Albani­en und Kroatien, im Mai 2016 Montenegro. Die KSZE wurde zwar vom Namen her von der Konferenz zur Or­ganisation OSZE aufgewertet, in ihren realen Funktion aber im Laufe der Jahre tendenziell abgewer­tet.

Gegenüber Russland gab sich die NATO anfangs konziliant und erklärte sich zur Zusam­menarbeit in Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bereit. 1994 wurde Russland Mitglied im Programm „Partnerschaft für den Frieden“, und 1997 wurde ein spezieller NATO-Russland-Rat vereinbart. Während ab 1999 die ande­ren ehemaligen osteuropäischen War­schauer Pakt-Staaten in die NATO aufgenommen wurden, blieb Russ­land außen vor. Ein In­teressenkonflikt mit Russland wurde damit von der NATO vorprogrammiert, ohne dass Zeit­punkt und Thema eines offenen Konfliktausbruchs benannt wurden.


Bilanz der Auslandseinsätze

Ein besonderes Problem stellte sich für die Bundeswehr allerdings mit dem fehlenden Feind. Ab 1990 waren alle Nachbarn Freunde. Die Mannschaftsstärke der Bundeswehr konnte ab­gesenkt werden von über 500.000 auf 177.568 (30.4.2026).

Wenn der Bestand der Bundeswehr weiter begründet werden sollte, mussten neue Aufga­benfelder außerhalb des NATO-Gebietes (out of area) gefunden werden. Das geschah suk­zessive: 1990/91: „Operation Südflan­ke“, um in der ersten Phase deutsche Bündnissolidarität wäh­rend des Zweiten Golfkriegs zu demonstrieren und anschließend die Gefährdung der Schiff­fahrt durch Seeminen im Persischen Golf zu beseitigen.

1993 die Entsendung eines Feldlazaretts nach Phnom Penh (Kambodscha)

Es folgten Einsätze in der Adria (SHARP GUARD 1992–1996), in Somalia (UNOSOM II) und auf dem Balkan

1999 Beteiligung am Kosovokrieg (noch heute sind dort 668 deutsche Soldaten stationiert bei einer Mandat­sobergrenze von 1850

ab 2001 Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Die Bilanz vor allem des personell und materiell aufwändigsten Einsatz in Afghanistan ist au­ßerordentlich negativ. Keines der benannten Ziele: Stabilisierung, Demokratie, Frauenbefrei­ung wurde erreicht. Hochfliegende Pläne von einer „Armee im Einsatz“, von „Schnellen Eingreift­ruppen“, die von Konfliktherd zu Konfliktherd und von Kontinent zu Kontinent eilen, erwiesen sich als illuso­risch. Das Friedensgutachten 2016 der wichtigsten deutschen Friedensforschungsinstitute kommt am 6.6.2016 bei einer Betrachtung, die über das Thema Bundeswehreinsätze hinaus auch Militäreinsätze bilan­ziert, an denen die Bundeswehr nicht beteiligt war zu folgendem Schluss:

„Wenn autoritäre Regime sich nur mit Repression an der Macht halten oder Staatsapparate keine Leistungen für das Gemeinwesen erbringen, münden Konflikte leicht in Gewalt und be­schleunigen den Zerfall staatlicher Strukturen. Auch eine ungerechte Welthandelsordnung kann dazu beitragen, die Akzeptanz politischer Insti­tutionen zu untergraben. „Wir brauchen eine faire Welthandelsordnung, die allen nützt“, fordert das Friedens­gutachten 2016 (FGA). Es prangert deshalb die Kumpanei der Industrieländer mit raffgierigen Eliten autokrati­scher Länder an und warnt zugleich davor, den Erfolg externer Eingriffe in Gewaltkonflikte zu über­schätzen. Die desaströsen Erfahrungen in Afghanistan, Irak und Libyen sollten eine Lehre sein.“ (4)

Nicht wenige Bundeswehroffiziere bemängeln im Rückblick auf den Afghanistan-Einsatz das Fehlen einer politischen Konzeption. Ein Oberst a.D. schrieb im Auswertung meines Vortra­ges im Dezember 2013 in der Kaserne der Luftlandebrigade 26 in Saarlouis:

„Am Beispiel Afghanistan und dem Einsatz von ISAF bestätigt sich wieder einmal die (zumin­dest militärische) Erkenntnis: Mit dem Einsatz von Militär kann man nicht Frieden schaffen, man kann nur der Politik Zeit und Rahmen schaffen, Frieden politisch herbeizuführen.“ (5)

Im Hinblick auf die zum Interview-Zeitpunkt bevorstehende Bundestagsentscheidung zur Be­teiligung am Sy­rien-Krieg und im Rückblick auf Afghanistan äußerte sich der Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes, An­dré Wüstner, am 2.12.2015.

„SPIEGEL ONLINE: Der Bundestag soll über etwas entscheiden, dessen Folgen niemand absehen kann? Wüstner: Absolut, die Zukunft ist völlig ungewiss. Keiner kann sagen, ob es gelingt, ein Ord­nungs­ziel zu defi­nieren – und wie sich die Luftschläge auswirken. Trotzdem müssen wir ver­suchen, klare und realistische Zie­le zu erarbeiten. In Afghanistan hat die Politik das über Jahre hinweg versäumt. Wenn wir ziellos umherirren, ist dieser Einsatz auf Dauer mit Sicher­heit nicht zu verantworten.“ (6)

Unterm Strich lässt sich festhalten, dass Militäreinsätze im Ausland nicht dazu beitragen, Konflikte zu lösen. Sie sind eher geeignet, vorhandene Konflikte zu verschärfen und ihre Lö­sung zu erschweren.

Neue Feindbildsuche nach dem verlorenen Afghanistankrieg

Ab 2007/2008 war Insidern in Militär und Politik klar, dass der Afghanistankrieg gescheitert war. Nicht selten hielten kritische Köpfe unter ihnen dennoch die Weiterführung des Krieges für nötig mit einem letzten ver­zweifelten Argument „sonst zerbricht die NATO“. Überaus deutlich wurde in dieser Aussage, wie sehr sich das Bündnis über die gemeinsame Bestim­mung eines Feindes definiert.

Aber diese Feind-Definition brach 2013 mit der Ankündigung des Abzuges der NATO-Kampftruppen aus Af­ghanistan weg. Sollte das Bündnis jetzt nicht zu zerbrechen drohen, musste ein Ersatz-Feind gefunden wer­den! Dieser Aspekt sollte neben anderen Aspekten im Ukraine-Konflikt gesehen werden – nicht als Ursache des Konfliktes, der auch nicht erst mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland begann, wohl aber als Element in der Handhabung des Konflikts, für dessen Eskalation beide Seiten Verantwortung tragen.

Mit der Neubesinnung auf das alte Feindbild Russland steht aber erneut die Problematik im Raum, dass ein großer konventioneller Krieg in Europa nicht mehr führbar ist. Mit Minsk 2 haben die Konfliktparteien im Fe­bruar 2015 den Ukrainekonflikt soweit eingedämmt, dass er nicht mehr auf ganz Europa auszugreifen droht. Mit der Verstärkung der NATO-Präsenz in Osteuropa wird aber zugleich das Konfliktpotenzial für einen großen Krieg gestärkt. Mit Blick auf das Ende des Kalten Krieges mag man sagen: Da hat sich die Katze in den Schwanz gebissen!


Die Bundeswehr im Cyberwar

Ein neuer Aspekt – zumindest in der öffentlichen Debatte – ist der Einsatz der Bundeswehr im Cyberwar, den die Verteidigungsministerin unlängst ankündigte. Dass im Internet Kriminalität, Wirtschaftsspionage, staatli­che Spionage und auch ein Eindrin­gen in militärische Bereiche versucht wird, liegt auf der Hand. Dass solche Versuche abge­wehrt werden müssen, versteht sich. Diese Abwehr kann aber nicht mit militärischen Mitteln erfolgen, sondern nur mit computertechnischen. Also wird zur Abwehr solcher Angriffe keine Bundeswehr be­nötigt.

Die Dimensionen des Cyberwar sind zugleich hochgefährlich. Eine solche Kriegführung könnte gegebenen­falls dazu führen, über den Eingriff in Steuerungssysteme Atomkraftwerke zur Explosion zu bringen und damit einen Atomkrieg ohne Atomwaffen zu führen. Wenn eine solche Zerstörung unserer Zivilisation verhindert werden soll, dann muss diese Art der Krieg­führung verhindert werden. Das bedeutet im Minimum, dass diese Art der Kriegführung inter­national geächtet wird. Die Bundesregierung kann aber nicht glaubwürdig für die Ächtung des Cyberwar eintreten, wenn sie selbst Streitkräfte zur Führung des Cyberwar unterhält. (7)


Wer oder was bedroht unser Land?

Wenn wir die ernsthaften Bedrohungen untersuchen, dann dürfte über die Gefahr einer mili­tärischen Eskalati­on wie zu Zeiten des Kalten Krieges, der nur durch Deeskalation zu begeg­nen ist und der Cyberproblematik, der nur mit IT-Techniken zu begegnen ist, vor allem ein zentrales Thema im Raum stehen und das sind die absehbaren Folgen des Klimawandels. Dazu gibt es eine Vielfalt wichtiger Studien unterschiedlicher nationa­ler und internationaler Institute, Regierungsstellen und auch militärischer Einrichtungen.

So hat Zentrum für Geoinformationswesen der Bundeswehr in Euskirchen eine solche Studie unter dem Titel „Globale Umweltprobleme als Sicherheitsrisiko“ erstellt. In dieser Studie heißt es: „Zurzeit werden die sicher­heitspolitischen Auswirkungen zumindest des Klimawandels von vielen Akteuren bereits erkannt, doch damit die globale Gemeinschaft entschlossen gegen diese Probleme vorgehen kann, bedarf es eines umfangreic­hen Interessenaustauschs auf politischer Ebene, z. B. in den VN. Während ein neues, effizientes Klimaab­kommen unter der Klimarahmenkonvention der VN derzeit besonders von den Erdöl exportierenden Staa­ten, allen voran Saudi-Arabien und Kuwait, behindert wird, benötigt die UNCCD auf Ebene der VN die Bedeutung, die es ihr ermöglicht, um wirksamere Maßnahmen zur Bekämpfung der Desertifikation zu bewirken...

Im Rahmen der EU kommt Deutschland dabei eine besondere Rolle zu, da es der EU-Staat mit dem größten politischen und wirtschaftlichen Gewicht ist und weil die Klimapolitik in Deutschland ihren Anfang nahm. Ein wesentliches Element für den politischen Einfluss ist die Glaubwürdigkeit, die sich in der erfolgreichen deut­schen und europäischen Klimapolitik manifestiert.“ Von militärischen Maßnahmen oder einer Rolle, die die Bundeswehr bei diesem wichtigen Thema spielen könnte, ist in dieser Studie nicht die Rede! In einer aufwühlenden Rede Ende August 2015 verglich US-Aussenminister JohnKerry die Gefahr des Klima­wandels für den Planeten mit jener, die 1940 von Hitler ausging (8). Damit machte er deutlich, dass ein Pro­blem in den Größenordnungen des Zweiten Weltkrieges auch mit einem vergleichbaren Aufwand an Anstren­gungen angegangen muss. Selbstver­ständlich nannte auch Kerry keine militärischen Maßnahmen, um dem Klimawandel zu be­gegnen. Wenn wir uns die Unwettererfahrungen der letzten Wochen ansehen, dann wird auch klar, dass wir neben politischen Entscheidungen für eine nachhaltige Energiewende auch eine deutliche Aufstockung an qualifi­ziertem Personal beim Technischen Hilfswerk (THW) und bei den Rettungsdiensten benötigen. Solches Teams mit entsprechendem Gerät könnten wir auch gerne in Auslandseinsätze schicken, in andere Länder und Kontinente, die akut unter den Folgen des Klimawandels leiden.


Brauchen wir die Bundeswehr noch oder kann die weg?

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: Brauchen wir die Bundeswehr noch oder kann die weg?

• Brauchen wir eine Bundeswehr, die unser Land nicht verteidigen, sondern schlimmstenfalls zur Vernichtung dieses Landes in einem großen Krieg in Europa beitragen kann?

• Brauchen wir eine Bundeswehr, die nicht zu einer politischen Lösungssuche bei zwischen­staatlichen Kon­flikten in Europa beitragen kann, sondern durch militärisches Muskelspiel eher zu einer Eskalation von Kon­flikten beiträgt?

• Brauchen wir eine Bundeswehr, die bei komplizierten internationalen Konflikten wie in Af­ghanistan, erfah­rungsgemäß nicht zur Lösung von Konflikten, sondern eher zu deren Ver­stärkung und weiteren Verkomplizie­rung beiträgt?

• Brauchen wir eine Bundeswehr, die bei den problematischen Dimensionen eines Cyberwar nicht dazu bei­tragen kann, diese gefährliche Kriegführung international zu ächten, sondern durch ihre aktive Teilnahme an dieser Art von Kriegführung diese Kriegführung international legitimiert?

• Brauchen wir eine Bundeswehr, die zur Abwehr der ernsthaften Bedrohung durch die Fol­gen des Klimawan­dels nicht in der Lage ist, sondern stattdessen Geld kostet, dass wir zur Bewältigung der Folgen des Klima­wandels dringend andernorts benötigen?

Um es kurz und prägnant zu sagen: Nein, wir brauchen die Bundeswehr nicht. Ja, sie kann weg.

Was wir brauchen, ist eine ernsthafte politische und diplomatische Krisenstrategie, einen Ausbau des Techni­schen Hilfswerkes und der Rettungsdienste und vor allem eine humane Flüchtlingspolitik für die Opfer unse­rer Kriege und unserer Klimasünden. Eine solche Politik kostet Geld und benötigt qualifiziertes Personal.

Wenn US-Außenminister John Kerry Recht hat, dass allein die Bewältigung der Folgen des Klimawandels Anstrengungen erfordert, die denen des Zweiten Weltkrieges entsprechen, dann können uns wir keine Bun­deswehr mehr für einen Dritten Weltkrieg leisten! Und wenn seit einiger Zeit kluge Köpfe vom grünen „Parteirebellen“ Robert Zion bis zum ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger dringend anregen, über eine neue Weltord­nung nachzudenken und dabei ex­plizit eine Weiterentwicklung der letzten großen Neuorien­tierung, der des „Westfälischen Friedens“ von 1648, fordern, dann will ich auch daran erin­nern, dass nach 1648 in vielen deutschen Städten die Stadtmauern ab­gerissen wurden, von denen sich die Bürger über Jahrhunderte Schutz versprochen hatten. Die Mauern wur­den abgerissen, weil sie keinen Schutz mehr boten und angesichts der Entwicklung der Waffen­technik keine Verteidigung der Städte mehr ermöglichten. Wenn heute die Bundeswehr wie geschildert, keine Verteidigung, sondern nur noch die Vernichtung unseres Landes ermög­licht, dann gehört auch sie abgerissen.
 

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(1) http://www.aixpaix.de/geschichte/nichtangriffsfaehigkeit.html
(2) http://www.aixpaix.de/europa/schreiber-interview-20150717.html
(3) http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=0838
(4) http://aixpaix.de/deutschland/friedensgutachten2016-20160607.html
(5) http://www.gfw-lb4.de/saar/Nachschau/nachsch_111213.htm
(6) www.spiegel.de/politik/deutschland/anti-is-einsatz-in-syrien-bundeswehrverband-warnt-vor-ueberlastung-a-1065582.html
(7) http://aixpaix.de/autoren/steinbicker/cyberwar-20160512.html
(8) http://www.nzz.ch/international/klimawandel-als-epochale-gefahr-1.18605568

 

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